Der närrische Revolutionär – eine Fastnachtsutopie

Warum denn immer nur Weihnachtsgeschichten? Mit ihrer Fastnachtsutopie zeigt unsere Kollegin, Tourguide &  Autorin Andrea Scheurer, dass Geschichten auch zur Fastnacht passen! Vorsicht! Kann Spuren von Dialekt enthalten 🙂

Es war eine kalte Novembernacht. Am Himmel hingen keine Wolken; die Sterne schienen klar auf die dunklen Gassen der Mainzer Altstadt hinab. Es war drei Uhr, überall war es still, die Kneipen waren geschlossen. Gesetze sorgten dafür, dass ab ein Uhr Ruhe herrschte. Dies galt allerdings nicht in Ausnahmezeiten wie Fastnacht oder Weihnachten. Bei diesen Festen war die Sperrstunde aufgehoben. Doch Weihnachten und Fastnacht kamen erst noch.

Die Anwohner genossen die Ruhe. Plötzlich wurde es laut. Von irgendwoher kam lärmendes Rufen:

„Es muss eine Revolution her! Wir brauchen eine Revolution! Das kann so nicht weitergehen …!“
„Is jetzt bald Ruh?“, konterte eine andere Stimme, „mach dei Revolution woannerst! Anständische Leut schlafe um die Zeit!“
„Ihr wisst ja gar nicht, was hier los ist, wohin uns das führt, was die noch mit uns vorhaben.“
„Ruhe!“
„Die müssen gestoppt werden. Wacht auf und rettet …“

Krrrrrawumm. Abrupt wurde der Rufer in der Nacht selbst gestoppt. Verursacher waren einige gelbe Säcke, die ein unvorsichtiger Imbissbetreiber mitten auf den Weg gestellt hatte.

„Was zum Donner …? Häh? Heee! Das ist ein Anschlag! Ein Attentat! Das war Absicht!“

Plötzlich wurde die dunkle Straße von Autoscheinwerfern erleuchtet. In das weiße Licht mischte sich ein aufdringliches Blau. Hinter einigen Fensterscheiben wurde es hell. Fenster wurden geöffnet und vor den hellen Räumen hoben sich dunkle Silhouetten ab.

„Na endlisch. Es wird aber aach Zeit, dass ihr komme duht.“
„Mir misse morje frieh uff die Arbeit. E bissje Schlof deht do gonz gut.“
„Nemmten mit un duhten in die Ausnichterungszell, do konn er soi Revolution mache!“

„Es muss eine Revolution her!“

Man hörte Stimmen, die durcheinander sprachen und Autotüren, die zuklappten. Das Polizeiauto entfernte sich. Ruhe kehrte wieder in der Mainzer Altstadt ein.

Und so wurde der „Närrische Revolutionär“ schon wieder mitgenommen. Er kannte die Prozedur bereits, er wusste auch, dass man ihn am nächsten Morgen wieder rauslassen würde. Das war immer so. Schließlich war er im Grunde harmlos. Abgesehen von seinen nächtlichen Eskapaden.

Tatsächlich verließ er tags darauf als freier Mann die Ausnüchterungszelle. Er hatte genug Zeit gehabt über sein Unternehmen nachzudenken. Ihm war nun klar, dass er alleine nichts ausrichten konnte. Er brauchte Verbündete und würde sie sich auch besorgen. Es musste jemand aus dem System sein. Jemand, der bekannt war, dessen Meinung etwas galt und vor allem jemand, der seinen Plan auch praktisch unterstützen würde. Der „Närrische Revolutionär“ wusste auch schon, wen er um Mithilfe bitten würde. Bestimmt wäre sie von der Idee angetan und würde ihm ihre Unterstützung nicht verweigern. Alles, was er brauchte, war eine Chance und eine Portion Glück.

Er brauchte Verbündete und würde sie sich auch besorgen.

Wieder eine kalte Nacht. Am klaren Sternenhimmel hing ein neuer Mond; der Regen des frühen Abends hatte dem Parkplatz eine dünne Eisschicht verliehen. Es war sehr glatt. Und doch waren genauso viele Autos wie sonst vor der „Eintracht-Halle“ abgestellt. Niemand schien sich an der Eisglätte zu stören. Wahrscheinlich hatten sie alle neue Winterreifen und ABS und elektronische „Oh-hier-ist-es-glatt“-Sensoren.

Mit unsicheren Schritten bewegte sich die Diva vorwärts. Sie war unterwegs zu einem Auftritt. Es würde bereits der vierte sein an diesem Abend. So war es immer während der Kampagne: von einem Auftritt zum nächsten. Manchmal war es ziemlich hektisch, so dass sie quasi aus dem fahrenden Auto heraussprang, um noch rechtzeitig in die Halle zu kommen und dann wiederum gab es Abende, da hätte sie zu Fuß gehen können. Tja, es war eben ein unstetes Geschäft. Aber es ließ sich ganz gut Geld damit verdienen. Als Diva sang sie nicht unter hundert Euro. Es sei denn es handelte sich um eine Benefizveranstaltung. Da sang sie dann gratis.

Ein Auftritt bestand im Fastnachtsgeschäft aus drei Liedern. Zwei, die im Programm standen und eines als Zugabe, mehr gab es nicht. Sitzungen dauerten um die fünf Stunden, man musste sie nicht unnötig noch mehr in die Länge ziehen. Nun war sie unterwegs zu ihrem vorletzten Auftritt, auf den sie sich ernsthaft freute. Das lag an den Leuten, die sie dort treffen würde. Allesamt sehr freundlich und bemüht, es ihr ein bisschen nett zu machen. Heute wollte sie sich dann noch ein oder zwei der nachfolgenden Darbietungen ansehen, vielleicht im Publikum sitzen und mitschunkeln oder mit den Vereinsmitgliedern hinter der Bühne fachsimpeln. Nach diesem Auftritt würde sie eine längere Pause haben, bis sie um zwei Uhr in der Früh zum letzten Mal raus müsste, nämlich nochmal nach Gonsenheim, in die Discothek „Astoria“.

Es ging nämlich nach Gonsenheim: Ins Astoria!

Bevor sie zum ersten Mal dort aufgetreten war, hatte sie sich gefragt, was sie dort überhaupt sollte. Schließlich handelte es sich dabei um eine sogenannte Foxtrott-Discothek. Ihrer Meinung nach passte sie überhaupt nicht dorthin. Deshalb war sie damals auch ziemlich aufgeregt. Als sie schließlich an der Reihe war – der DJ hatte die neueste Single von MC Gaili ausgeblendet – sang sie aus voller Kehle, sang ausgesuchte Männer aus dem Publikum an und amüsierte sich und das Publikum köstlich. Am Ende erhielt sie einen Riesenapplaus und Sekt und Blumen (und natürlich die 100 Euro).

Bevor sie das Lokal verlassen hatte, machte ihr der albanische Türsteher ein paar Komplimente und bot ihr an, dass sie auch mal bei einer Beerdigung singen könnte, denn die Albaner seien ja eigentlich ein lustiges Volk und dazu sehr musiphil. Damals hatte sie entrüstet abgelehnt; bei einer Beerdigung zu singen konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Heute tat ihr das leid, es wäre bestimmt eine interessante Erfahrung gewesen. Außerdem gab es so viele unglaublich gutaussehende albanische Kerle … Na, vielleicht würde sie der Türsteher heute Abend noch einmal fragen oder sie sprach ihn einfach darauf an. Mal sehen.

Wenn Utopien Wahr werden…

So war sie in ihre Gedanken versunken und achtete nicht mehr auf ihre Füße, die nun plötzlich auf dem vereisten Parkplatz ausglitten. „Aaaah!“ Pardautz, da plotzte die Diva der Länge nach hin. Es war nur ein kurzer Schrecken, so dass sie sich gleich wieder aufrappelte. Von weitem hörte sie eine Stimme, die schnell näherkam. Irgendwie zu schnell. „Haben Sie sich wehgetan? Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.“ Mit schnellen Schritten eilte eine hochgewachsene Gestalt mit roter Clownsnase auf sie zu. Die Diva wunderte sich, wieso dieser Mensch trotz des Glatteises so schnell laufen konnte. Da war er auch schon bei ihr, packte sie um die Taille und zog sie hoch. „Danke, vielen Dank. Das ist wirklich sehr freundlich.“

Des is doch de „Närrische Revolutzer“

Dann blickte sie auf des Mannes Füße: er trug Spikes an seinen Schuhen. Deshalb konnte er so schnell laufen, ohne auszurutschen. „Ich erkenne Sie … Sie sind doch die Diva … Könnten Sie … nur einen Gefallen …“ Die Diva sah ihn etwas ungeduldig an. „Es tut mir leid, aber ich habe einen Auftritt. Ich habe keine Zeit mehr.  Ja, äh …“ Sie geriet etwas ins Stocken, weil sie merkte, dass es ihm offensichtlich wichtig war. „Vielleicht nach dem Auftritt?“, schlug sie der Clownsnase vor. „In Ordnung“, bestätigte der Fremde. „Warten Sie am oder im Hintereingang auf mich“, bot ihm die Diva noch an. Es sah ihr nach, wie sie den Hintereingang der Halle betrat und er dankte dem Zufall und dem Schicksal und allen himmlischen Mächten allen voran Gott Jokus für dieses Zusammentreffen. Er war sich sicher soeben seine Verbündete gefunden zu haben.

Bereits hinter der Tür im Gang traf die Diva auf die ersten Vereinsvorsitzenden.

„Guten Abend und Helau“, rief sie ihnen fröhlich zu.
„Ach, des is jo unser Diva. Helau, moi Mäjdsche. Un, wie geht ders dann?“

Die Diva wurde von zwei starken Armen gepackt, an eine breite Männerbrust gedrückt und erhielt einen nach Wein und Fleischwurst riechenden feuchten Kuss auf die Wange.

„Hallo, Lieblings-Erster-Vorsitzender, eigentlich geht’s mir gut. Allerdings habt ihr da draußen eine ziemliche Eisfläche auf dem Parkplatz, der ich eben fast zum Opfer gefallen wäre. Es kam aber ein Retter mit roter Clownsnase vorbei … Ach, da steht er ja.“

Des is doch de „Närrische Revolutzer“.

Der Erste-Vorsitzende des Fastnachtsvereins reckte den Hals und machte große Augen.
„Was? Der hot dir geholfe? Des is doch de „Närrische Revolutzer“.

Die Diva blickte etwas verwirrt. „Wer ist das?“ der Erste-Vorsitzende blickte auf die Uhr und wurde plötzlich hektisch. „Oh, jetzt werds Zeit. Du bist gleisch dro. Auf enoi mit dir!“ Dabei schob er die Diva weiter in den Gang hinein.

„Oh!“ Die Diva huschte durch den Gang, die Treppe hinauf, stahl sich an einem lebenden Schaumgummi-Obstkorb mit singenden Früchten vorbei und stand nun direkt neben der Bühne. Die letzten Lobesworte des Sitzungspräsidentenvertreters waren verklungen. Der Büttenredner zog zu den Klängen des Narhalla-Marsches ab. Die Diva stülpte sich schwungvoll ihre blonde Langhaar-Perücke auf, klemmte eine beige Basthandtasche unter den Arm und stieg zwei der fünf Stufen zur Bühne empor. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Lampenfieber hatte.

Wie immer. Die Tatsache, dass sie zu manchen Zeiten mehrmals am Abend auf der Bühne stand, änderte nichts daran. Es war furchtbar. In diesen Momenten fragte sie sich regelmäßig, was sie hier tat, warum sie hier stand und warum sie nicht Zahnarzthelferin geblieben war. Dies war nämlich ihre ursprüngliche Tätigkeit. Allerdings hatte sie sich vor vielen Jahren umorientiert, da ihr der Job keine Geschichten bot. Und die waren ihr wichtig. Eine langweilige Tätigkeit war für sie auf Dauer nichts. Doch nun wünschte sie sich, dass sie in einer Zahnarztpraxis stünde und Vorbereitungen für eine Backenzahnextraktion treffen sollte. Es half nichts. Sie stand an einem Bühnenaufgang uns sollte gleich raus. Der Auftritt kam näher.

Die Antwort des Publikums klang wie eingeübt.

„Do drauße steht ääni, die will eisch ebbes singe. Und zwar iwwer die Dormelichkeit vun Männer gehscheiwwer der Geschicklichkeit vun Fraue. Obwohl isch net glaab, dass es des gibt. Wolle mer die trotzdem roilosse?“

Und laut rief das Publikum zurück: „Eroi middenä!“ Noch bevor der Sitzungspräsidentenvertreter das Kommando geben konnte, setzte die Kapelle laut schmetternd an, den Narhalla-Marsch erneut zu spielen. Es ging los. Die Diva fühlte sich sterbenselend, stieg die letzten Stufen zur Bühne hinauf, winkte mit der linken Hand dem Publikum, hätte sich am liebsten übergeben, hielt ihre Basttasche in der rechten – strahlte abwechselnd das Komitee und die Kapelle an, wünschte sich nach Hause, war am Mikrophon angekommen –und plötzlich glücklich.

„Helau, Ihr Leut!“ Weg war es, das Lampenfieber. Sie stand vor einem Mikrophon. Das war ihre Bestimmung. Da fühlte sie sich plötzlich sicher und wohl.

Und laut rief das Publikum zurück: „Eroi middenä!“

„Helau, Diva!“ Die Antwort des Publikums klang wie eingeübt. Ehemalige Kinder der 70er Jahre erinnerten sich in diesem Moment an die Sendung ‚Disco‘ mit Ilja Richter, der zur Begrüßung seines Publikums immer dazu noch einen Schritt nach hinten gegangen war. Da begann die Kapelle auch schon das erste Lied zu intonieren; die Diva sang: „Manchmal ist es besser, ich stell mich dumm. Ich sag euch auch wieso, warum. Der Mann ist ein geborener Held, dem’s leider nicht gefällt …“. Sie sang sich durch die erste Strophe, obwohl die Kapelle innerhalb der Bläsergruppe Probleme hatte die Melodie zu halten. Im Refrain fiel für einen Moment das Schlagzeug aus, was die Diva kurzzeitig aus dem Takt brachte. Sie wäre aber nicht die Diva gewesen, hätte sie nicht wieder hineingefunden. Sie hob ihre Basttasche und drohte scherzhaft dem Schlagzeuger. Der grinste verlegen. Das Publikum freute sich über diese kleinen Gesten, applaudierte und verzieh.

„Kann ich auch Dinge reparier‘n, so tu ich gleich die Lust verlier’n. Ich lege dann mein Werkzeug hin und rufe laut: es hat kein‘ Sinn.“ Beim zweiten Refrain stand das Publikum bereits auf den Stühlen, hielt sich jeweils an den Schultern des Vordermannes fest und schunkelte von vorn nach hinten. Die Stimmung war ziemlich losgelöst. Dies lag allerdings nicht nur an der Diva. Um diese Uhrzeit lag das hauptsächlich am Spaßaccelerator Alkohol. Auch wenn die billigste Flasche Wein zwanzig Euro kostete, hielt das niemanden vom Trinken ab. Früher hatten die Gäste versucht, alkoholische Getränke in die Hallen hineinzuschmuggeln.

Tradition auf dem Prüfstand

Aber seit den Leibesvisitationen und den Taschenkontrollen war damit Schluss. Da kam kein Flachmann mehr durch. Auch mit den mitgebrachten belegten Mohnstangen, die zuhause im Dutzend von fleißigen Händen geschmiert, belegt und sorgfältig – wie in der entsprechenden Halle üblich –verpackt wurden, war es vorbei. Jetzt blieb nur noch der Wein. Gegessen wurde zuhause. Die Gäste kamen mit vollen Bäuchen zu den Sitzungen und waren während der ersten Stunde für keine Büttenrede aufnahmefähig und auch sonst eher träge. Deshalb hatten sich die Vereine etwas Besonderes einfallen lassen: sie hatten die Schunkelnummern an den Anfang der Sitzungen gelegt und zusätzlich noch so genannte Massentänze aus der Mottenkiste geholt.

Tja, Fastnacht war ein ernstes Geschäft…

So sollte das Publikum mit sanften Bewegungen – dem Schunkeln – langsam aus der Fressnarkose geweckt und durch das Auf und Nieder der Körper und das in-die-Luft-Werfen diverser Gliedmaßen sozusagen wieder an das Leben gewöhnt werden. Nach einer Stunde waren die Gäste meistens dann bereit und das eigentliche Programm konnte beginnen. Aus diesem Grund war die erste Stunde für die Diva tabu. Innerhalb der ersten 60 Minuten wäre sie niemals in einer Sitzung aufgetreten. Da ließ man nur die Anfänger, die Schlechten und die Abgetakelten auftreten. Die Diva wusste, dass wenn man sie für die erste Stunde hätte engagieren wollen, wäre es das ihr Aus gewesen. Dann hätte sie sich auf ihr Altenteil zurückziehen können.

Tja, Fastnacht war ein ernstes Geschäft und eine Angelegenheit mit viel Konkurrenz. Wer glaubte, es ginge hinter den Kulissen etwa immer lustig zu, der irrte ganz gewaltig.

„Ach, dann lass ich halt die Händ davon. Wozu, Ihr Leut, hab ich en Monn?“ Der dritte Refrain bereitete der Kapelle nun keinerlei Schwierigkeiten mehr. Der Schlagzeuger meisterte alle Takte mit Bravour. Sie drehte sich zu ihm hin und deutete ein Klatschen an. Das Publikum jubelte. Als das Lied zu Ende gesungen war, setzte ehrlicher Applaus ein. Die Diva freute sich. Der Sitzungspräsident hatte inzwischen wieder seinen Platz eingenommen, winkte die Diva zu sich und rief ins Publikum: „Wir bedanken uns recht herzlich bei unserer Diva mit einem dreifach donnernden Helau.“ Er rief es dreimal und warf dabei den linken Arm von der rechten Schulter nach linksoben in die Luft über den Kopf hinaus.

Host mer gefalle, moi Mäjdsche

„Aber, liebe Diva, wie ich dich kenne, hast du uns bestimmt noch ein Lied mitgebracht. Sing’s für uns. Bitte schön.“ Das zweite Lied war einer ihrer Hits, bei dem sang nicht nur das Publikum, sondern auch das Komitee und die Kappelle mit. Nach dem Hit klatschten alle und riefen „Zugabe“. Der Sitzungspräsident nickte unauffällig und die Diva sagte ihr Lied selbst an. Sie musste sich keine Mühe geben, obwohl es sich eigentlich um ein abgedroschenes Lied handelte, was sogar beim Rosenmontagszug von jedem Fanfarenzug gespielt wurde. Aber hier ging es nicht nur um das Lied, sondern um die Vortragsweise. Die Diva lebte das Lied, spielte es, spielte mit der Kappelle, spielte mit dem Publikum und blühte dabei förmlich auf. Als der letzte Ton verklungen war, setzte der Beifall ein. Schnell machte sich die Diva von der Bühne. Die Kapelle spielte zum Auszug nochmal den Refrain des letzten Liedes, während die Diva mit ihrem Blumenstrauß winkte und ihr Publikum anstrahlte. Immer noch strahlend kam sie hinter der Bühne an.

Mensch, Diva, was warste heit widder gut.

„Mensch, Diva, was warste heit widder gut. Host mer gefalle, moi Mäjdsche.“ Die Diva prustete während sie sich die Perücke vom Kopf zog und lächelte den „Haushofmeister“, der hinter der Bühne für die richtige Reihenfolge der Auftritte und für Ordnung sorgte, an. „Dank dir, Haushofmeister. Ist aber auch ein tolles Publikum heute. Die sind ja richtig gut drauf. Sogar die, die vorne an der Bühne sitzen, haben gelacht und mitgesungen. Wie habt ihr das angestellt? Habt ihr denen was in den Wein getan?“ „Um Goddes Wille“, entgegnete der Haushofmeister, „Nö. Mir habbe diesmal die Ehregäst hinnedroo gesetzt, damit se uns net die Stimmung ruiniern.“ „Oh!“, warf die Diva ein, „das war aber mutig!“

„Och, du, wääßde, mir warn des so leid. Immer die griesgrämische Gesischder vun dene. Des hott uns gereischd. Do habbe er mol die Blätz gedauschd mit dene, die gern uff e Sitzung gehe und die im Juli beim Vorverkauf kei annere Kaarde mehr krieht habbe.“

„Was“, fragte die Diva überrascht, „schon im Juli gab es nur noch Karten für die hintersten Plätze? Wieso das denn?“

„Ei, des kennste doch. Jeder vun dene so genannde Fips hot soi Kontingend. Un weil des jedes Jahr mehr vun dene Fips wern, gibs schun im Juli nur noch Kaarde fer Plätz mit Sischtbehinderung.“

„Und was sind ‚Fips‘?, fragte die Diva.
„Ei, Fi Ei Pies, des sin die wischdische Persone.“
„Ach, die“, kopfschüttelnd nahm die Diva diese Information zur Kenntnis. „So, jetzt wird es Zeit für mich. Eigentlich wollte ich mich ja noch etwas ins Publikum setzen, aber ich glaube, ich fahre doch schon los.“
„Wo mussde dann heit noch hie?“
„Ins Astoria, abber erst um zwei.“
„Um zwaa Uhr?“, fragte der Haushofmeister überrascht. „Derfe die solong uff habbe?“
„Ja, aber nur weil sie im Gewerbegebiet liegen. Da kann sich keiner aufregen. Und die paar Leute, die da wohnen, sind nicht so einflussreich, als dass sie eine Sperrstunde ab ein Uhr erwirken könnten.“

Plötzlich fiel der Diva ein, dass sie ja quasi verabredet war. Sie verabschiedete sich schnell und ging zum Hintereingang. Dort stand noch die Clownsnase.

„So, hier bin ich. Es hat doch etwas länger gedauert; ich habe noch eine Zugabe geben müssen. Aber jetzt können Sie mir erzählen, was Sie von mir wollen, obwohl ich eigentlich schon fast wieder unter Zeitdruck bin. Ich muss noch zu einem weiteren Auftritt. Aber, wenn Sie wollen, kommen Sie doch mit. Haben Sie einen Wagen?“

Sie ließ die Clownsnase stehen und ging vorsichtig zu ihrem Auto

Die Clownsnase zeigte mit dem Kopf hinter sich. „Ich kam mit dem Fahrrad hierher.“ Die Diva blickte ungläubig. „Mit dem Rad? Bei diesem Wetter? Haben Sie etwa an Ihren Fahrradreifen etwa auch Spikes, wie an Ihren Schuhen?“

„Ja, so etwas ähnliches.“ Die Clownsnase wurde verlegen. „Ich kann auch bei glatten Straßen damit fahren.“
„Na“, meinte die Diva pragmatisch, „dann können Sie ja mit dem Fahrrad nachkommen. Treffen wir uns in Gonsenheim, im Astoria.“

Sie ließ die Clownsnase stehen und ging vorsichtig zu ihrem Auto.

Am Astoria kamen sie schließlich gleichzeitig an. An der Eingangstüre wurde die Diva vom Türsteher wiedererkannt und freudig begrüßt. Beim Anblick der Clownsnase wurde er jedoch etwas stutzig und wollte ihn zuerst nicht hineinlassen. Aber nachdem die Diva meinte, dass er sich nicht auffällig benehmen, sondern ruhig an der Theke sitzen und auf sie warten würde, ließ der Türsteher ihn hinein. Die Diva betrat mit der Clownsnase die Innenräume. Es hätte ihr eigentlich egal sein können, was der Kerl ihr erklären wollte, aber die Diva war von Natur aus neugierig. Sie schoben sich an den kleinen Tischgrüppchen vorbei und durch die Menge bis zur Theke. Der Barkeeper hatte bereits vom Türsteher seine Anweisungen erhalten.

„Ach, die Diva, gude mei Schätzje. Wie geht’s dir dann?“ Mit diesen Worten beugte sich der Barkeeper über die Theke und küsste die Diva rechts und links auf die Wange. „Alles im grüne Bereich, ja? Schön, dass de heut emal widder bei uns aufdrehde duhst …“

Er redete mit seiner näselnden Stimme so schnell, dass die Diva Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Aber eigentlich war das auch nicht nötig, denn das meiste, das der Barkeeper sagte, war Geplänkel, nicht wichtig und die Antworten hörte er meist sowieso nicht mehr. Aber er hatte ihnen zwei Barhocker frei gehalten, auf die sie sich nun setzten.

„Schätzje, was trinksten?“
„Kalle, mach mir bitte ne Apfelsaftschorle, Oder gibt es inzwischen alkoholfreien Rotwein?“
„Diva, bitte!“ Der Barkeeper verdrehte die Augen und verzog das Gesicht. Er hatte das Getränk bereits vorbereitet und schob ihr das Glas hin.
„Un, was derfsn fürs Clownsnäsje sei?“
„Ich nehme ein großes Wasser.“ Der Blick auf die Getränkekarte hatte Divas Begleiter ob der Preise erschaudern lassen.
„Du kannst ruhisch was Rischdisches trinke; des geht uffs Haus.“
„Dann nehm ich n Weizen.“
„Des is doch e Wort.“

Nun saßen die Diva und die Clownsnase an der Theke und die Diva fragte sich, was sie denn wohl erwarten würde.

„Also! Um was geht es?“
„Zuerst muss ich mich vorstellen. Mein Name ist – egal. Der tut nichts zur Sache. Die meisten nennen mich …“
„Clownsnäsje! Dei Weizen!“

Völlig verdutzt ob der erneuten Unterbrechung und des vermeintlichen neuen Namens geriet er ins Stottern, fing sich aber wieder.

„Die meisten nennen mich den ‚Närrischen Revolutionär‘.“ Als wäre dies ein langerwartetes Geständnis gewesen, machte er eine bedeutungsschwangere Pause und sah die Diva erwartungsfroh an.
„Ja, so etwas in der Art habe ich schon gehört. Es sagt mir aber nichts. Ich kann mit diesem Namen nichts anfangen.“
„Dann will ich es ihnen näher erklären“, hob er an und los ging es:
„Ich bin der Kerl, der nachts durch die Stadt läuft und die Bevölkerung vor der Tyrannei der Fastnachtsvereine warnt. Ich bin der, der sich für die Wiedereinführung der alten Straßenfastnacht einsetzt. Ich bin der, der die Fastnacht verändern will. Ich bin der, der für Spontaneität und Improvisation ist und nicht für Programme und Ablaufzettel. Ich bin …“

„Diva, Schätzje, es geht los!“

Abermals wurde der ‚Närrische Revolutionär‘ vom Barkeeper jäh unterbrochen. Allmählich glaubte er an Sabotage und Verschwörung. Die Diva hatte bis jetzt noch kein Wort zur „ich-bin-der-Rede“ gesagt. Fünfzehn Minuten später kam die Diva wieder zurück.

„So, du närrischer Revolutionär, jetzt haben wir Zeit. Erzähle, was du willst und wie deine ‚Revolution‘ aussehen soll. Und der ‚Närrische Revolutionär“ begann zu reden. Er berichtete von schlimmen Zuständen in der organisierten Fastnacht und von früheren Zeiten, als die Menschen noch singend und lärmend durch die Stadt zogen und alles besser war. Auch vom Rosenmontagszug erzählte er und davon, dass zu Zeiten der Straßenfastnacht jeder, der wollte, mitlaufen konnte. Der ‚Närrische Revolutionär‘ wünschte sich, dass es wieder lustiger werde in der Fastnacht. Die Diva hörte sich an, wie er die Leute aufrütteln und was er ihnen sagen wollte, was zu verändern sei.

„Sieh es dir doch mal an“, forderte der ‚Revolutionär‘ die Diva auf, „wie geht es denn bei den Sitzungen zu?“ Bevor sie antworten konnte, gab er sich selbst die Antwort:

„Ab Juli gibt es keine Eintrittskarten mehr, Leibesvisitationen bevor man die Halle betreten darf, die erste Stunde nur schlechte Musik und Leibesertüchtigungen und über allem trohnen die die Herren in ihren Samtumhängen. Nein, nein, nein. So kann es nicht weitergehen. Siehst du nicht, dass sich etwas ändern muss?“

Die Diva blickte nachdenklich und fand, dass er im Grunde Recht hatte. Allerdings gehörte sie ebenfalls zum System; schließlich verdiente sie nicht schlecht bei ihrem Mittun. Und sie fragte sich, was wohl andere Fastnachter dazu sagen würden. Viele machten Fastnacht aus Renommé; sie dagegen hatte einfach nur Freude daran. Sie würde auch für weniger oder sogar für gar kein Geld singen. Wichtig war ihr, dass das Publikum Spaß hatte. Aus diesem Grund nahm sie auch in diesem Jahr zum ersten Mal an der Umsonst-und-draußen-Stehung auf dem Domplatz teil. Sie hatte bewusst auf ein Honorar verzichtet. Andere Kollegen nicht.

„Hast du einen Plan, wie du deine Thesen unter’s Volk bringen willst? Etwa an die Tore des Doms tackern wie Luther seine Thesen?“ Der ‚Revolutionär‘ schüttelte entschlossen den Kopf.

„Ich habe einen famosen Plan, der ist so …“, er suchte nach dem Wort, „revolutionär, dass es einen riesen Wirbel geben wird.“

„Los, sag schon“, forderte die Diva ihn auf. Er blickte sie triumphierend an: „Du bist mein Plan. Du wirst mein Lied singen. Mein Revolutionslied. Und weißt du auch wann? Bei der Mutter aller Sitzungen, bei ‚Mainz bleibt Mainz wie’s singt und lacht‘.“

Die Diva glaubte sich verhört zu haben.

„Das ist nicht dein Ernst. Das würde einen unglaublichen Ärger geben. Wenn ich das mache, kann ich mir direkt ein Fluchtauto und einen Umzugswagen bestellen.“ Und nach einer kurzen Pause während der sie versonnen in die Ferne schaute, fuhr sie fort: „Die Vorstellung ist zwar äußerst amüsant, aber nicht ausführbar. Das kannst du vergessen!“

Der ‚Revolutionär‘ sah äußerst enttäuscht aus.

„Das tut mir jetzt wirklich leid, aber das ist nicht machbar. Damit kämst du sowieso nicht durch. Sobald die merken würden, das kommt was, das nicht im Programm steht, würden die Fernsehmenschen die Sendung ausblenden und eine ‚Bildstörung‘ vortäuschen. Dein Plan ist leider absolut unrealistisch. Um den auszuführen, müsstest du schon an allen neuralgischen Stellen Verbündete haben.“

Der ‚Revolutionär‘ machte ein langes Gesicht. Er musste zugeben, dass sein Plan wohl gewaltige Lücken hatte. Er hatte ihn einfach nicht zu Ende gedacht. Es gab auch keinen Plan B, auf den er zurückgreifen konnte. Was war zu tun? Er schämte sich etwas vor der Diva; viel Rauch um nichts. So eine Blamage. Aber die Diva sah garnicht so unglücklich aus. Sie legte ihm den Arm um die Schultern und sagte tröstend: „Weißt du was, ‚Revolutionär‘? Wir zwei fahren jetzt zu mir, trinken den Sekt aus und schauen dann mal weiter. Und auf der Fahrt dorthin bringst du mir dein Revolutionslied bei.“

Gesagt – getan. Sie verließen das ‚Astoria‘ in den frühen Morgenstunden. Lachend, singend und schlitternd begaben sie sich zu Divas Auto und stiegen ein.

Und bekämpfen uns’re Gegner mit Weck und Worscht und Wein

Da ihnen von der Aufregung warm geworden war, kurbelten sie die Fenster runter und ließen die Nacht hinein. Es roch nach Schnee und Kakao. Ein Zeichen dafür, dass sie am nächsten Tag schönes Wetter haben würden. Der ‚Närrische Revolutionär‘ sang jeweils eine Zeile vor, die Diva sang sie nach. Und weil sie soviel Spaß hatten, fuhren sie quer durch die Stadt und noch einmal und immer wieder.

Und als in dieser Nacht verschiedene Närrinnen und Narhallesen ihre Sitzungen verließen, zu ihren Autos gingen oder am Taxistand oder an der Bushaltestelle warteten, erblickten sie einen Wagen, in dem zwei Personen saßen und lauthals sangen. Einige verstanden den Text und weil die Melodie eingängig und zudem bekannt war, summten sie diese bis sie zuhause ankamen und einige noch etwas länger. Der Busfahrer hörte sie ebenfalls und sang leise mit, weil er während seines Studiums Revolutionslieder für eine Hauptseminarsarbeit bearbeiten musste und dieses ganz besonders mochte. Der pakistanische Taxifahrer fühlte sich an die Zeit nach seiner Flucht, als er in Italien lebte, erinnert und summte ebenfalls mit. Ein paar Hipster versuchten mit einer App herauszubekommen, um welches Lied es sich handelte – und waren erfolgreich dabei. Da sie jedoch mit dem Originaltext in italienischer Sprache nichts anfangen konnten, googelten sie es und wurden auf einer Internetplatform für Videos fündig. Sie hatten den Kanal des ‚Närrischen Revolutionärs“ gefunden und streamten sein Lied während sie es laut mitsangen.

Die Diva hatte ebenfalls Gefallen an dem Lied gefunden und nachdem sie an dem Text noch etwas gefeilt hatte, nahm sie es mit der Erlaubnis des ‚Revolutionärs‘ in ihr Repertoire auf und in der folgenden Kampagne sang sie es bei jedem Auftritt. Das Publikum sang es stehend und jubelnd mit und zwar noch minutenlang obwohl die Kapelle schon längst aufgehört hatte zu spielen und die Diva eigentlich noch ein anderes Lied singen wollte.

Und mit dem Lied zog der revolutionäre Gedanke einer freien und lustigen Straßenfastnacht durch die Stadt und dann jagten die Narren alle Vorsitzenden und stellvertretenden Kassenwarte aus der Stadt über den Rhein nach Wiesbaden – und wenn sie mal gerade nicht heiser sind, so singen sie immer noch das närrische Revolutionslied‘:

Helau, du Narrenschar! Du darfst nicht weichen,
Mucker und Philister musst du einseifen.
Helau, du Narrenschar! Nur frisch voran,
beim Rosenmontagszug gleich vorne dran.
Mit wehenden Fahnen zieh’n wir durch die Stadt und vor den Spaßbremsen machen wir nicht halt.
Rufen auf zur Narrenrevolution am Rhein
Und bekämpfen uns’re Gegner mit Weck und Worscht und Wein.

Helau, du Narrenschar! Du darfst nicht schweigen,
sing närrische Lieder, vergiss die Geigen.
Helau, du Narrenschar! Auf! Auf und hin.
Beim Rosenmontagszug sei mittendrin.
Mit wehenden Fahnen zieh’n wir durch die Stadt und vor den Spaßbremsen machen wir nicht halt.
Kämpfen gegen Vorständ und Saalfassennacht
Und all uns’re Gegner wer’n jetzt weggejacht.

Helau, du Spießerschar! Das war’s gewese:
Orangschne Hose, in der Hand en Bese.
Atscheu, du Spießerschar! Sapper Zement.
Beim Rosenmontagszug an’s letzte End.
Mit quietschende Reife rollste durch die Stadt, als Zugent fährste alle Bombo platt.

Gib nie die Hoffnung auf, du Narrenschar:
Sieh, du hast gesiegt, oh wie wunderbar.

(Melodie: Avanti populo)

Text: (c) Andrea Scheurer

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